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Die Idee zum Buch


Auszug aus dem Vorwort von Brigitte Timmermann

Begonnen hatte die Suche nach den Spuren des Dritten Manns vor vielen Jahren mit dem kleinen Hansl (‚Papa, der war der Mörder! Ich hab's doch g'sehn!') und der Neugierde eines amerikanischen Freundes. Er wollte mehr über den kleinen Jungen wissen. Ein mit Bleistift auf ein altes Filmfoto gekritzelter Name führte auf seine Spur. Die Lust an weiterer Detektivarbeit in Sachen Dritter Mann war bald geweckt: wo ist das Café Marc Aurel, durch welche Litfasssäule ist Harry im Kanal verschwunden, an welcher Ecke Wiens ist die Balkonszene mit ‚Baron Kurtz' gedreht worden? Es begann die Suche nach den unzähligen, oft schwer zu identifizierbaren Originaldrehorten (Harry Limes Wien gehorcht nicht immer den Gesetzen der Stadttopographie!), gefolgt von Recherchen in österreichischen und englischen Archiven, Filminstituten und Bibliotheken. Die Anglistin interessiere vor allem der Autor Graham Greene, die Historikerin die politische und filmpolitische Geschichte hinter der Geschichte, den Filmfan die Umsetzung der Wiener Stadtlandschaft in Filmlandschaft und die Fremdenführerin die Einmaligkeit der mit dem historischen Ambiente Wiens untrennbar verbundenen Drehorte.

Ein überaus reger Briefverkehr sowie lange faszinierende Gespräche mit Zeitzeugen - Regieassistenten, Schauspielern, Statisten oder ehemalige Besatzungssoldaten - ließen bald ein überaus facettenreiches Bild vom Dritten Mann und seinem zeitlichen und räumlichen Umfeld entstehen. Es machte Spaß, Regisseur Guy Hamilton in seiner Villa auf Mallorca über die Dreharbeiten zur Katzenszene erzählen zu hören, über die er heute noch flucht, die unlängst verstorbene ‚Österreichberaterin' Elizabeth Montagu in Beaulieu bei Southampton zu interviewen, die sich trotz ihres hohen Alters noch sehr genau an ihre nächtlichen Wiener Barbesuche an der Seite von Graham Greene erinnerte, oder einen an und für sich unbedeutenden Statisten in Melbourne aufzustöbern, der wegen "seines russischen Kinns" als Besatzungssoldat engagiert wurde.

Aber auch in Österreich selbst ließen sich viele Spuren finden. "Der Dritte Mann" ist zwar der Klassiker des britischen Kinos, gleichzeitig aber auch ein sehr ‚österreichischer' Film. Das beginnt schon bei ‚Alt-Österreicher' Alexander Korda und seinen vielfältigen Beziehungen zu seinem alten Freund, dem österreichischen Produzent Karl Hartl und die Filmstadt Wien, und reicht von den Dreharbeiten an Wiener Originalschauplätzen, über das österreichische Filmteam, die österreichischen Schauspieler, Kleindarsteller und Statisten bis zum millionenfach verkauften Harry-Lime-Theme des Wiener Heurigenmusikers Anton Karas. Der für einen Oscar nominierte Schnittmeister "Ossi" Hafenrichter stammte aus der Steiermark, Art Designer "Ferdi" Bellan, einer der Großen der Brache, aus Wien, Bergfilmlegende "Schneefloh" Hans Schneeberger, dem wir eine der schönsten Szenen des Films, die Schlussszene auf dem Zentralfriedhof verdanken, aus Tirol. Als österreichische Regieassistenten standen Carol Reed Gino Wimmer und Paul Martin zur Seite. Unzählige Österreicher agierten in Klein- und Statistenrollen vor der Kamera, darunter Boxsportidol Heinz Lazek und zahlreiche Emigranten, die in Kordas Filmimperium nach dem Anschluss 1938 Aufnahme gefunden hatten, so die Schwester der österreichischen Schriftstellerin Ilse Aichinger. Die Sieveringer Filmstudios stellten alle technischen und personellen Kapazitäten zur Verfügung, die die Filmstadt Wien zu bieten hatte. Nicht zuletzt wurde die Finanzierung durch einen Millionenkredit der Österreichischen Nationalbank gesichert.

Auch im Umfeld des Films gab es interessante Berührungspunkte zwischen Österreich und England zu entdecken. Wer weiß schon, dass Paul Hörbiger seine Rettung aus der Todeszelle der Gestapo einem englischen Verehrer von der BBC zu verdanken hatte oder der nach England emigrierte Besitzer des arisierten Wiener Luxusrestaurants "Zu den drei Husaren" in den Shepperton Studios die Filmcrew des Dritten Manns verpflegt hat? Dass der Russische Geheimdienst 1934 versucht hatte, von Wien aus junge Linksintellektuelle der englischen Eliteuniversität Cambridge zu rekrutieren? Dass die persönliche Sekretärin Carol Reeds mit Hugo von Hoffmannsthal verwandt war? Dass Graham Greenes Gesellschaftsstück The Potting Shed unter dem Titel Das Geheimnis im Theater in der Josefstadt seine deutsche Uraufführung erlebt hat, und Ernst Deutsch (‚Baron Kurtz'), einer der ganz großen Schauspieler des deutschsprachigen Theaters, seine Karriere nach seiner Flucht aus Österreich auch in England erfolgreich fortsetzen konnte?

Mit so viel geballter Information musste man etwas machen. Was lag also näher, als den Dritten Mann zum Thema einer Stadtführung zu machen? Allen Zweiflern zum Trotz ("Wer interessiert sich denn heitre noch für so einen alten Schwarzweißfilm, die sind doch alle schon gestorben!") sind überraschend viele gekommen, um Wien auf den Spuren Harry Limes zu entdecken. Einheimische, Gäste aus dem Ausland, naturgemäß viele britische Fans - aber auch viele Besucher aus Übersee (immerhin ist der Oscar für Beste Kamera nach Australien gegangen!) und sogar aus Japan, wo Der Dritte Mann zu den beliebtesten ausländischen Filmen zählt. Es sind ältere und jüngere Gäste, Fans von Orson Welles oder Anton Karas, ehemalige amerikanische oder britische Besatzungsoffiziere, Historiker, Film- und Reisejournalisten, Schulklassen, die sich mit dem Dritten Mann im Zeitgeschichte- oder Englischunterricht beschäftigen, Leute vom Film oder ganz einfach eingeschworene Liebhaber des Filmklassikers. Welche andere Stadt kann schon mit einer derartigen Fülle von authentischen Filmschauplätzen eines einzigen Filmes aufwarten? Für die ältere Generation ist alles noch erlebte Geschichte, sie erinnert sich an die "Vier im Jeep", den ausgebrannten Stephansdom, die Schuttberge in der Kärntnerstrasse, die wurmstichige russische ‚Erbsenspende' und den Ersatzkaffee. Andere schwärmen vom Hörbiger und der Bleibtreu, den Stars ihrer Jugend, manche wollen einfach nur einen Blick in das legendäre Kanalsystem unter ihrer eigenen Stadt werfen. Die jüngeren Teilnehmer erinnern sich oft an die Szene mit ‚Harrys Katze' als ihr erstes, bewusst wahrgenommenes Kinoerlebnis, haben aber kaum mehr eine Vorstellung davon, welch verheerende Luftangriffe einst über Wien geflogen wurden, wie sehr Hunger, Kälte und Not den Alltag in der Nachkriegszeit bestimmt haben, und dass Schwarzmarktgeschäfte und Schieberei nicht nur Filmkulisse, sondern bittere Realität waren. Für die Gäste aus dem Ausland bedeutet Der Dritte Mann schlicht und einfach - Wien! Die Stadt Harry Limes!

Eine umfassende zeit- und filmgeschichtliche Dokumentation des Dritten Manns und seiner Stadt wurde eine logische Folgerung. Wo sonst als in Wien, wo alle Fäden seiner Entstehung zusammengelaufen waren, sollte sie geschrieben werden, wo sonst als in Wien noch nie veröffentlichtes Material an Photos, Briefen, Zeitungsartikeln und Sammlerstücken einem interessierten Publikum zugänglich gemacht werden?

Undokumentiert würde sowohl ein Stück Filmgeschichte als auch ein Stück Stadtgeschichte, vielleicht auch ein Stück Weltgeschichte unwiederbringlich verloren sein.